Komponenten der Versammlung

von Dr. Hilary Clayton

erschienen im Magazin "Dressage Today", Oktober 2007

(Übersetzung Jenny Neuhauser)

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Die Versammlung ist die Spitze der Ausbildungsskala – das ultimative Ziel bei der Ausbildung eines Dressurpferds. Gemäss der FEI-Regeln (Fédération Equestre Internationale) für Dressur sind die Ziele der Versammlung: die Balance und das Gleichgewicht (Equilibrium) des Pferdes zu entwickeln und verbessern; die Fähigkeit, die Hinterhand zu beugen und aktivieren zu entwickeln und verbessern und damit die Leichtigkeit und Beweglichkeit der Vorhand zu erleichtern; die Durchlässigkeit, Rittigkeit und Selbsthaltung des Pferdes zu verbessern. Eines der Forschungsprojekte, welche Hilary Clayton am McPhail Equine Performance Center leitet, untersucht, wie Pferde Versammlung erreichen und welche Muskeln gestärkt werden müssen, um die Ausführung der Bewegungen in der Versammlung und Selbsthaltung zu erleichtern. In diesem Artikel wird das Verhältnis zwischen den technischen Anforderungen für die Versammlung und den damit verbundenen biomechanischen Charakteristiken beleuchtet.

DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN KRÄFTEN UND BEWEGUNGEN

Um die Versammlung zu verstehen, müssen wir zuerst die fundamentale Beziehung zwischen Kräften und Bewegungen klären. Die Fortbewegung des Pferdes entsteht dadurch, dass die Hufe gegen den Boden stossen und damit eine Kraft produzieren; ohne diese Kraft gibt es keine Bewegung. Diese Kräfte bestimmen die Geschwindigkeit und die Richtung der Bewegung: je stärker die Hufe schieben, desto schneller bewegt sich der Körper fort.

Das Pferd bewegt sich in die gegensätzliche Richtung, wie die Hufe schieben:

  • Stösst der Huf nach unten, wird der Körper in eine erhabene Schwebephase aufwärts gestossen
  • Schiebt der Huf nach hinten, wird der Körper nach vorne in eine kraftvolle Verstärkung getrieben
  • Der Huf schiebt nach rechts, um eine Wendung oder eine Seitwärtsbewegung (z.B. Traversale) nach links auszuführen.

Im McPhail Center kann mittels spezieller Messplatten die Kraft, mit welcher der Huf auf den Boden in den verschiedenen Gangarten und Lektionen drückt, gemessen werden. Diese sogenannten „Kraftplatten“ sind ca. 60cm x 120cm gross, bestehen aus Metall, sind mit einer rutschfesten Gummimatte bezogen und in einer gummierten Laufbahn eingebettet. Wird das Pferd nun über diese Messplatten geritten, kann gemessen werden, wie sich der Schub gegen den Boden anpassen muss, um die Länge oder Erhabenheit eines Tritts zu ändern.

Etwas was wir aus unseren Studien gelernt haben, ist der entscheidende Unterschied, wie die Vorder- und Hintergliedmassen arbeiten. Die Hintergliedmassen sind der Motor und sind vorwiegend für die Fortbewegung zuständig. Der Rücken übermittelt die vorwärts treibenden Kräfte nach vorne zur Vorderhand. Die Vorderbeine sind ausgelegt, die Geschwindigkeit zu kontrollieren, den Körper zu wenden und die Balance des Pferdes abzugleichen. Wenn der Versammlungsgrad zunimmt und die Selbsthaltung des Pferdes verfeinert wird, werden auch die Rückenmuskeln beansprucht, um die Vorhand zu erleichtern. Alle Körperteile müssen harmonisch zusammenarbeiten, um ein ausgewogenes Bild zu erzielen.

Die unterschiedlichen Funktionen von Vor- und Hinterhand sind auch durch ihre unterschiedlichen Bauweisen und Winkelungen der Gelenk ersichtlich. Die Winkelung des Knie- und Sprunggelenks lässt eine Beugung zu, wenn das Hinterbein Gewicht aufnimmt und streckt sich dann kraftvoll, um die Antriebskraft zu entwickeln. Im Gegensatz dazu liegt der Vorderarm und das Röhrbein in der gewichtsaufnehmenden Phase gerade auf einer Linie und wirkt so wie eine Stützstrebe für die Schulter. Eine interessante anatomische Eigenschaft des Pferdes ist, dass es kein Schlüsselbein besitzt. Demzufolge gibt es keine knöcherne Verbindung zwischen den Vordergliedmassen und dem restlichen Körper. Stattdessen hängt der Rumpf zwischen den Schulterblättern in einer Schlinge aus kräftigen Muskeln.

Die Muskeln dieser Brustschlinge bestehen aus dem Serratus Ventralis und den pektoralen Muskeln, welche von der inneren Fläche des Schulterblattes und Oberarmknochenzu den Rippen und dem Brustbein verlaufen. Wenn sich diese Muskeln entspannen und dehnen, hängt der Brustkorb in einer tieferen Position zwischen den Schultern. Folglich sinkt der Widerrist etwas hinunter und die Oberlinie des Pferdes erscheint etwas bergab zu verlaufen. Wenn die Muskeln dieser Schlinge sich jedoch zusammenziehen und verkürzen, wird der Brustkorb und somit der Widerrist angehoben und lässt die Oberlinie des Pferdes bergauf verlaufen. Die Kontraktion dieser Brustschlingenmuskeln ist ein entscheidender Anteil des Mechanismus derSelbsthaltung, welcher den aufrichtenden Effekt der Vorhand von den Schultern via den Schlingenmuskeln zum Brustkorb und Widerrist überträgt. Das Dressurpferd muss also lernen, diese Muskeln zu aktivieren, um eine Aufrichtung zu erzielen.

Foto A. Bronkhorst

Foto A. Bronkhorst

 

Ein versammeltes Pferd mit Hankenbeugung und Aufrichtung

Das Dressurpferd muss lernen, die Haltemuskulatur zu aktivieren, um eine Aufrichtung zu erreichen. Die Muskeln die den Brustkorb, wie in einer Schlinge halten, sind der Serratus Ventralis (1) und die pektoralen Muskeln (2), welche von der Innenseite des Schulterblattes (3) und des Humerus (4) zu den Rippen (5) und des Brustbeins (6) gehen. Wenn diese Muskeln entspannen und sich längen, hängt der Brustkorb in einer tieferen Position zwischen den Schultern. Dies hat zur Folge, dass der Widerrist heruntersinkt und die Oberlinie des Pferdes abwärts wirkt. Wenn diese Brustschlingen-Muskeln sich zusammenziehen und verkürzen, wird der Brustkorb getragen, was wiederum den Widerrist anhebt und der Oberlinie die Aufrichtung verleiht. Die Kontraktion dieser Haltemuskulatur ist ein Kernpunkt des Selbsthaltungs-Mechanismus, welcher den aufrichtenden Effekt der Vorhand von der Schulter via der Haltemuskulatur von Brustkorb und Widerrist transportiert (7).

 

BEWEGUNGSABLAUF DER GLIEDMASSEN WÄHREND EINES SCHRITTES

Jeder komplettierte Schritt einer einzelnen Gliedmasse besteht aus einer Stützphase, wenn der Huf auf dem Boden ist, sowie einer Beugephase, während der Huf nach vorne schwingt. Unsere Augen werden naturgemäss auf die vorschwingende Beugephase der Bewegung gelenkt, wenn sich die Gelenke beugen, um den Huf vom Boden anzuheben, und wieder strecken, wenn das Bein nach vorne schwingt. Die Bewegung der Beine während der Beugephase gibt dem Schritt Ausdruck, besonders, wenn das Bein weit nach vorne greift.

In der Stützphase schiebt der Huf gegen den Boden, um den Körper nach vorne zu bewegen. Die Bewegungen der Gliedmasse während dieser Stützphase ist sogar wichtiger, um die Qualität des Ganges zu beurteilen, als die Bewegung während der Beugephase. Kurz nachdem der Huf auf dem Boden angekommen ist, müssen sich die Gelenke beugen, um die Erschütterungen aufzufangen. Pferde unterscheiden sich darin, wie gut sich die Hüfte, Knie und Sprunggelenke beugen können und wie lange die Beugung aufrechterhalten werden kann. Idealerweise möchte man eine starke Beugung während des mittleren Teils der Stützphase sehen. Diese Beugung wird auch „Hankenbeugung“ genannt. Dieser Ausdruck bezieht sich auf die kleineren Winkel am Hüft-, Knie- und Sprunggelenk. Bei der Hankenbeugung wird das Hinterbein als Ganzes verkürzt bzw. komprimiert und die Kruppe abgesenkt.

Im letzteren Teil der Stützphase, werden das Hüft-, Knie- und Sprunggelenk wieder gestreckt, wenn der Huf nach hinten schiebt, um die Antriebskraft zu generieren. Je kräftiger die Muskeln sind, desto stärker können sie schieben und desto schneller können sie die nötige Kraft generieren, so dass der Huf weniger Zeit am Boden verbringt. Demzufolge braucht der Huf je stärker die Muskeln werden desto weniger Zeit am Boden, um die Impulsion zu entwickeln, die Stützphase wird kürzer, die Bewegung wirkt erhabener. Besonders wichtig wird dies in stark versammelten Lektionen, wie Pirouetten und Piaffen, wenn das Pferd noch nicht kräftig genug ist und am Boden zu kleben scheint.  Der Ausdruck das Pferd „hinten aktiver“ zu machen, meint nicht eine Erhöhung des Tempos, sondern ist eine Aufforderung, den Huf schneller vom Boden abzuheben. Um dies zu erreichen, müssen die Muskeln kräftig genug sein, um stärker zu schieben und die nötige Kraft schneller zu generieren.

Dem Beitrag der Vorhand für die Erreichung der Versammlung wurde bisher meist weniger Beachtung geschenkt als der Hinterhand, ist aber mindestens so wichtig wie diese. Die verbesserte Schubkraft der immer kräftiger werdenden Hinterhand neigt dazu, die Balance des Pferdes nach vorne auf die Vorhand zu schieben. Das Ausmass der Antriebskraft der Hinterhand muss also durch die Bewegung der Vorhand so ausbalanciert werden, dass der Wiederrist aufwärts und zurückgestossen wird, um zu verhindern, dass das Pferd über die Vorhand wegrollt. Ohne diesen ausbalancierenden Effekt der Vordergliedmassen würde eine stärkere Schubkraft der Hinterhand das Pferd mehr auf die Vorhand bringen.

Der Rücken des Pferdes ist auch essentiell in der Formel für die Selbsthaltung. Der Rücken als Ganzes muss genügend stabil sein, damit die Antriebskräfte überhaupt von der Hinterhand zur Vorhand transportiert werden können. Wenn der Rücken gummiartig weich wäre, wäre dies nicht sehr effektiv für eine Kraftübertragung. Besonders wichtig für die Stabilisierung ist eine Gruppe kurzer (multifidus) Muskeln, welche angrenzend an die Wirbelsäule liegen. Je weiter das Pferd in der Ausbildung voranschreitet und je besser die Selbsthaltung wird, desto mehr helfen die langen Rückenmuskeln (Longissimus), welche unter der Haut links und rechts neben der Wirbelsäule liegen, die Vorhand anzuheben. Besonders offenkundig wird dies in den Pirouetten und Piaffen, Lektionen welche einen hohen Versammlungsgrad und Leichtheit in der Vorhand, aber wenig Vorwärtsbewegung verlangen. Diese anhebende Funktion der Rückenmuskulatur wurde klar ersichtlich in der Forschung zur Levade, bei welcher die Vorhand von hinten angehoben wird, anstatt sich vom Boden wegstösst. Die langen Rückenmuskeln halten die Position in der Levade aufrecht, was eine ungeheure Kraft beansprucht.

Der Kopf und Hals machen ungefähr 10 Prozent des gesamten Körpergewichts aus, was ungefähr 55-60kg bei einem Warmblut ausmacht. Bewegungen des Halses haben einen grossen Effekt darauf, wie die Hufe gegen den Boden stossen. Dies ist z.B. gut ersichtlich, wenn das Pferd versucht ein schmerzendes Bein in der gewichtsaufnehmenden Phase durch eine stark nickende Bewegung zu entlasten: Der Kopf und Hals werden gesenkt, wenn das gesunde Bein Gewicht aufnimmt, und dann hochgehoben, wenn das gesunde Bein abfusst. Damit wird die Kraft gegen den Boden während des Abfussens verstärkt, das gesunde Bein drückt stärker vom Boden ab und übernimmt so einen grösseren Anteil,  den Körper anzuheben, was wiederum die Kräfte auf das schmerzende Bein verringert. Dressurpferde, welche noch nicht kräftig genug sind die langen Rückenmuskeln mitzubenützen, um die Vorhand in den Pirouetten oder Piaffen anzuheben, kompensieren dies manchmal durch rhythmisches Kopfnicken in der Abfussphase. In der Pirouette im Galopp z.B. wird der Kopf zeitgleich mit dem führenden Vorderbein angehoben oder in der Piaffe, wenn das schwächere Vorderbein abfusst. In beiden Beispielen wird der Aufwärtsschwung des Kopf und Halses dazu benötigt, um die Vorhand anzuheben.

ANTRIEBSKRAFT UND TRAGFÄHIGKEIT

Am Anfang der Ausbildung liegt der Fokus darauf, dem Pferd beizubringen sich im Takt rhythmisch vorwärts zu bewegen und die Muskulatur welche die Gelenke der Hinterhand strecken zu stärken, um die Schubkraft der Hinterhand zu verbessern. Diese Muskeln sind verantwortlich, um über Schubkraft (forward propulsion) Geschwindigkeit und Schrittlänge zu regulieren, und durch die Aufwärtskraft (upward propulsion die Erhabenheit des Ganges und das Ausmass der Schwebephase zu bestimmen.

Foto A. Bronkhorst

Foto A. Bronkhorst

 

Zu Beginn der Ausbildung wird der Fokus darauf gelegt, das Pferd im Takt vorwärts zu reiten und die Schubkraft der Hinterhand zu verbessern, indem die Muskeln gestärkt werden, welche die Gelenke beim Abfussen strecken.

 

Je stärker die Hinterhand schiebt, desto grösser ist die Gefahr, dass das Pferd auf die Vorhand gestossen wird. Deshalb ist es wichtig, im Äquivalent auch die Muskeln der Vorderbeine zu kräftigen, damit die Vorhand angehoben und das Pferd ausbalanciert werden kann.

Wenn die Muskeln kräftig genug sind, um die nötige Schubkraft bereitzustellen, wechselt der Fokus auf die Entwicklung der Fähigkeit, die Hintergliedmasse zu tragen. In dieser Phase der Ausbildung, schiebt die Hinterhand den Körper nicht nur vorwärts und aufwärts, sondern beugt die Hanken während der lastaufnehmenden Phase vermehrt, welche eine andere Art muskulärer Kraft benötigt. Gleichzeitig hebt die Vorhand die Schultern an und die Brustschlingenmuskeln übertragen diese Aufrichtung auf den Widerrist. Das Ergebnis der sich senkenden Hinterhand und des sich anhebenden Widerristes ist eine Bergauftendenz des gesamten Pferdes: die Versammlung.